Nora Gomringer, Autorin
Die Texte Birger Sellins erinnern Leserinnen und Leser daran, dass die Welt für viele Menschen ein Ort großer Missverständnisse, Ängste und Sehnsüchte ist. Ohne ihre Lektüre wäre ich nicht Schriftstellerin geworden.
Eine Zivilgesellschaft, die sich der Pluralität verschreibt, darf nicht Plätze schaffen wollen, sondern muss in ihrer Grundhaltung immer wieder freihalten für Menschen, deren Bedürfnisse besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Als Autist, der durch die „Gestützte Methode“ schreiben und sich der Welt mitteilen kann, sendet Sellin Botschaften an nicht-Autisten, die vom Wunsch nach Inklusion und Teilhabe, aber auch Abgrenzung und Selbstbestimmung künden.
Seine z.T. dicht komponierten Gedanken, die im Band „Ich will kein inmich mehr sein“ zum ersten Mal konzentriert wurden, zeigen die Werdung eines homme des lettres. Von (Tagebuch-) Eintrag zu Eintrag wächst ein auktoriales Selbstverständnis und mir als Leserin festigt sich der Eindruck eines erwachenden und auch stärker werdenden Selbst-Begriffes. Dies zu lesen tut gut.
Wie einer seine Stimme findet und im kleinen Rahmen Diplomatie übt, wie er uns mitteilt, dass er – obwohl von außen als nicht teilnehmend betrachtet – sehr wohl sieht, hört und im Inneren prozessiert, was um ihn herum geschieht, das ist wertvoll und mahnt zur Achtung. Das Spektrum der Ausprägung autistischer Herausforderungen ist groß, das Medieninteresse an Autisten ausgeprägt, gepaart mit Asperger Syndrom hat es eine seltsame, bestürzende „Hippness“ entwickelt, so dass der Blick auf die Betroffenen und ihr Umfeld sich verfälscht. Durch Mitteilungen wie die von Birger Sellin wird dem qua Diagnose an den Rand der Gesellschaft Gedrängten, Platz in ihrer Mitte ermöglicht. Was uns die mitzuteilen haben, die täglich in direkter körperlicher Abhängigkeit zu anderen Menschen stehen, nämlich kranke Menschen, alte Menschen, körperlich und/oder geistig eingeschränkte Menschen und Kinder muss das Gehör der anderen finden, wenn wir den Schutz von Pluralität als sinnvoll erachten und für die Gesellschaft als sinnstiftend begreifen wollen. Ihr Erhalt kostet Kraft und Geld und fordert von uns den Mut, unbedingt für ein moralisches und ethisches Bewusstsein einzutreten, dass obwohl hin und wieder unpopulär und scheinbar gegen den Zeitgeist gewandt, radikale Nächstenliebe ausdrückt.
Nora Gomringer, Schweizerin und Deutsche, lebt in Bamberg. Sie schreibt, vertont, erklärt, souffliert und liebt Gedichte. Alle Mündlichkeit kommt bei ihr aus dem Schriftlichen und dem Erlauschten. Sie fördert im Auftrag des Freistaates Bayern Künstlerinnen und Künstler internationaler Herkunft. Dies tut sie im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia.
Noras Empfehlung für die bunteste Literaturliste Deutschlands:
Ich will kein inmich mehr sein
Birger Sellin
KiWi-Taschenbuch
ISBN: 978-3-462-02463-0
240 Seiten
Broschur
Foto: Judith Kinitz, 2017